Sicherheit durch technologische Souveränität!

Neue sicherheitspolitische Herausforderungen erfordern zu ihrer Bewältigung eine deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die neben den klassischen Themenfeldern auch die Bedeutung von Technologien für die Sicherheit unseres Landes stärker als bisher berücksichtig. Die Verfügbarkeit, Integrität und Beherrschbarkeit modernster Sicherheitstechnologien ist ein unverzichtbarer Baustein für eine zukunftsgerichtet Sicherheitsarchitektur der Industrienation Deutschland. Ein Meinungsbeitrag von Stefan Mair, Mitglied der BDI-Hauptgeschäftsführung.

Deutschland hat wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung der vergangenen Jahre profitiert. Seine Wettbewerbsfähigkeit und sein Wohlstand basieren auf der Teilhabe an der bestehenden, offenen Weltordnung mit einem möglichst freien Warenverkehr und ungehinderten Zugängen zu Beschaffungs- und Absatzmärkten.

So wuchs nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung das reale Durchschnittseinkommen in Deutschland dank seiner internationalen ökonomischen Verflechtungen zwischen 1990 und 2011 jährlich um 1240 Euro. 20 Prozent des -Wachstums des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in dieser Zeit sind auf Globalisierungseffekte zurückzuführen. Rund ein Viertel der deutschen Arbeitsplätze, über neun Millionen, hängen heute vom Außenhandel ab – mit steigender Tendenz. Der Beitrag der Exporte am deutschen BIP liegt bei 50 Prozent, die Außenhandelsquote – also der Anteil von Exporten plus Importen am BIP – erreichte in den vergangenen Jahren durchschnittlich 76 Prozent – das ist ein Rekordwert.

Wesentlicher Faktor dieses Erfolgs war die marktwirtschaftliche Öffnung vieler Nachfolgestaaten der Sowjetunion, großer Schwellenländer in Lateinamerika, Afrika und Südostasien – hier vor allem China und Indien. Hinzu kam in unmittelbarer europäischer Nachbarschaft ein stabiles Investitionsumfeld in Mittelosteuropa, das vor allem durch die Aufnahme der dortigen Länder in EU und NATO entstand.

Die Stärkung des EU-Binnenmarkts und die Schaffung der Eurozone bildeten einen soliden, großen Heimatmarkt für unsere Unternehmen. Westliche Wertevorstellungen eines liberalen Wirtschaftssystems, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten prägte das Handeln aller großen internationalen Institutionen wie den Vereinten Nationen, der Welthandelsorganisation oder dem Internationalen Währungsfonds. Sicherheitspolitisch konnten sich Deutschland und Europa jahrzehntelang darauf verlassen, dass die USA als internationale Gestaltungsmacht diese Ordnung garantierten. Neben den politischen Aspekten waren aber insbesondere neue Technologien – gerade im digitalen Bereich – der grundlegende Treiber der Globalisierung. Die digitale Vernetzung ist mittlerweile aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben nicht mehr wegzudenken.  

Neue Risiken

Doch so sehr Deutschland und Europa von diesen internationalen ökonomischen und politischen Verflechtungen profitieren, so sehr sind mit ihnen auch neue sicherheitspolitische Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten verbunden. Die bestehende Ordnung unterliegt in ihrer Sicherheit und Stabilität einem Wandel, der sie immer mehr in Frage stellt.

Inner- und zwischenstaatliche Konflikte führen bereits heute in vielen Regionen zu einer politischen Destabilisierung. Die Krisen in Afghanistan über Syrien, Irak, Nord- und Nordwestafrika bis nach Nigeria und neuerdings auch im Jemen setzen im Verbund mit dem internationalen islamistischen Terror fundamentale Werte der westlichen Welt einem Belastungstest aus. Die Folgen sind komplex. Aus ökonomischer Perspektive gefährden sie für die Weltwirtschaft wichtige Öl- und Rohstoffmärkte sowie für Europa bedeutsame Handels- und Logistikrouten. Außen- und sicherheitspolitisch stoßen die tradierten Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten Europas in diesen Regionen immer mehr an ihre Grenzen.

Der wirtschaftliche Aufstieg von Staaten wie China oder Indien verschiebt die globalen Marktgewichte und politischen Machtpole. Sie sind verbunden mit dem legitimen Anspruch dieser Länder, die globale Ordnung auf Grundlage dezidiert eigener Wertevorstellungen mitzugestalten. Das Beispiel China zeigt: Nationales Selbstbewusstsein verkörpert sich dabei auch in einem sicherheitspolitischen Behauptungswillen bei Grenzstreitigkeiten mit Nachbarstaaten und dem Aufbau militärischer Stärke. Russlands Annexion der Krim und die Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine sind die bisher größte Herausforderung der europäischen Friedensordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs. Unter dem Eindruck dieser Krisen fast unbeachtet, spielen sich in ihrer Folge Flüchtlingsdramen im Mittelmeer ab, die zusätzlich dokumentieren, wie sehr die Welt in Unordnung geraten ist – und wie wenig sich Europa abschotten kann.

Hinzu kommt der Umstand, dass in einer zunehmend digital vernetzten Welt Unternehmen, kritische Infrastrukturen, Behörden und Forschungseinrichtungen immer verwundbarer werden für Ausspäh-und Sabotageangriffe aus dem Cyberraum. Diese finden grenzüberschreitend und rund um die Uhr statt. Die Täter sind dabei ebenso vielfältig wie deren Motive. Die jährlichen Schäden hierdurch liegen allein für die deutsche Industrie in einem hohen zweistelligen Milliardenbereich.

Die bisher dominierende Ordnungsmacht USA realisiert immer mehr die Grenzen ihrer politischen und militärischen Kraft. Experten sprechen bereits von einem neuen Zeitalter der Einschränkung in der amerikanischen Außenpolitik. Es wird durch eine wachsende Unabhängigkeit von Energieimporten ermöglicht und durch eine isolationistische Grundstimmung in der Bevölkerung befördert. Parallel dazu haben staatliche und nichtstaatliche internationale Organisationen immens an Einfluss und Gestaltungskraft verloren.

Auf diese Entwicklungen müssen Europa und Deutschland – als einer der führenden europäischen Staaten – gemeinsame Antworten finden. In einer Situation, in der die Einheit der EU infolge der  Wirtschafts- und Finanzkrise und die Krise in Griechenland wie nie zuvor in Frage gestellt wird.

Bedeutung der sicherheitstechnologischen Souveränität

Die bestehende offene und freie Weltordnung gegen diese Risiken zu schützen, muss ein außen- und sicherheitspolitisches Kerninteresse der Handelsnation Deutschland sein – gemeinsam mit seinen Verbündeten in EU und NATO. Die geschilderten Sicherheitsherausforderungen sind an sich nicht neu. Sie spiegeln sich in einer Vielzahl von Grundsatzdebatten, in politischen Konzepten und Einzelfallentscheidungen auf nationaler und europäischer Ebene wider.

Bisher unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, welche sicherheitspolitische Bedeutung hierfür die Verfügbarkeit und Beherrschbarkeit von Sicherheitstechnologien – im Sinne einer technologischen Souveränität – im zivilen wie militärischen Bereich künftig haben soll. Dabei ist grundsätzlich unstrittig ist, dass Sicherheitsbehörden, Streitkräfte aber auch Unternehmen und Bürger für ihre Aufgabenfelder, ihren Eigenschutz und für den Schutz gerade auch kritischer Infrastrukturen modernste Sicherheitstechnologien benötigen.

Zwar betont die Bundesregierung stets die hohe Bedeutung nationaler „Kernfähigkeiten“ oder „sicherheitsrelevanter Schlüsseltechnologien“ insbesondere im Rüstungsbereich oder hinsichtlich sicherer IT-Systeme. Eine genaue Definition, was genau darunter zu verstehen ist, gibt es jedoch nicht. Auch bleiben wichtige Technologiefelder bzgl. ihrer potentiellen Sicherheitsrelevanz für unser Land außer Betracht: Neue Materialien und Produktionsverfahren wie der 3D-Druck, Sensorik, Robotik und Miniaturisierung, Energiespeichertechnologien, Biotechnologie, Navigations- und Geodatensysteme als Grundlage jeglicher autonomer Fortbewegung – über die Bedeutung dieser Technologien wird derzeit allenfalls unter wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Aspekten diskutiert. Es existieren weder transparente Kriterien für eine Einstufung als „Schlüsseltechnologien“ noch gibt es klar artikulierte Ziele, was damit in Folge für die betroffenen Unternehmen industriepolitisch verbunden ist.

Das gilt es, zu ändern. Aus Sicht der deutschen Industrie bedarf es eines gemeinsamen Prozesses von Industrie und Staat, um Technologiefelder anhand transparenter Kriterien auf ihre Sicherheitsrelevanz und den Grad der notwendigen technologischen Souveränität hin einzustufen. Zudem müssen Ziele und Maßnahmen zur Förderung dieser Technologiefelder entwickelt und umgesetzt werden. Dabei dürfen die Unternehmen, die Schlüsseltechnologien entwickeln und herstellen, nicht dem europäischen Wettbewerb entzogen werden. Vielmehr gilt es, deren Wettbewerbsfähigkeit gezielt im Rahmen von Forschungsprogrammen und einer innovationsfreundlichen Beschaffungspolitik zu fördern.

Dazu gehört aber auch, Unternehmen in Europa einen ökonomisch tragfähigen Heimatmarkt zu schaffen, der ausreichende Volumina aufweist, um Skaleneffekte im Interesse der Unternehmen und Kunden zu heben. Aber auch internationale Exportpotentiale müssen erschließbar bleiben. Hierzu bedarf es einer moderaten weitsichtigen und EU-weit einheitlichen Exportpolitik, die bis heute in vielen der sicherheitsrelevanten Technologiefeldern nicht existiert.

Um es deutlich zu sagen: Technologische Souveränität und tragfähige Marktstrukturen in Europa sind nicht gleichzusetzen mit einer Marktabschottung oder einer technologischen Autarkie. Das wäre angesichts der weltweiten Vernetzung von Wirtschaftsprozessen weder ordnungspolitisch erstrebenswert noch realisierbar.

Vielmehr müssen die betroffenen Technologiesysteme hinsichtlich ihrer Sicherheit, Integrität und Zuverlässigkeit bewertbar, beherrschbar und ggf. Untersysteme substituierbar sein. Eine so verstandene technologische Souveränität ist vereinbar mit einem offenen Welthandelssystem und den Sicherheitserfordernissen einer führenden Handelsnation Deutschland.

Fazit

Es ist nicht Aufgabe von Unternehmen, deutsche Sicherheitspolitik zu definieren. Dies ist das Primat der Politik. Eine solche Definition kann jedoch nur auf der Basis zentraler Werte und auf Grundlage abzugleichender nationaler Interessen erfolgen. Dafür ist es unabdingbar, diese gesellschaftlichen aber eben auch die ökonomischen Interessen und Fähigkeiten zu artikulieren. Letzteres ist die Aufgabe und der sicherheitspolitische Beitrag der Wirtschaft – gerade im Bereich der technologischen Souveränität.